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Gekommen, um zu bleiben - Die Südtiroler Siedlungen

Historischer Hintergrund

Als nach dem 1. Weltkrieg Südtirol, das Herzstück Tirols, durch den Vertrag von St. Germain von Österreich abgetrennt wurde und zu Italien kam, begann für seine Bewohner ein langer Leidensweg.

Die 1928 in Bozen geborene Wörglerin Paula Zangerl, geb. Bachmann beschreibt das Leben unter faschistischer Herrschaft in ihren Erinnerungen so:
“Der öffentliche Gebrauch der deutschen Sprache wurde verboten, man italianisierte Ortsnamen, auf Gräbern wurden die Vornamen umgeschrieben, es gab nur noch die italienische Sprache auf Ämtern oder bei Gericht. Deutsche Kindergärten wurden verboten, es gab nur noch italienischen Sprachunterricht, streng verfolgte Katakombenschulen zum Deutsch lernen konnten kaum Abhilfe schaffen”.

Jedes Brauchtum wurde verboten, alle deutschen Vereine mussten aufgelöst werden und gleichzeitig wurde ab 1923 die Zuwanderung von Süditalienern vorangetrieben. Dazu wurden südlich von Bozen rund drei Millionen Quadratmeter (etwa 300 Hektar) fruchtbare Obst- und Gemüsegründe sowie andere Flächen, die fleißigen Bozner Bauern gehörten, enteignet, in Bauland umgewidmet und in eine riesige Industriezone umgewandelt.
Von 1920 bis Ende 1945 waren insgesamt 80.000 italienische Arbeiter und Angestellte mit ihren Familien aus den alten Provinzen nach Südtirol umgesiedelt worden.

Allen Zwängen der Faschisten zum Trotz hatten die Südtiroler aber ihre deutsche Sprache und Kultur nicht aufgegeben und mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 wuchsen in der Südtiroler Bevölkerung die Hoffnungen und Erwartungen an einen ebensolchen Anschluss an das Deutsche Reich.
Dieser erfolgte jedoch nicht und die beiden Diktatoren Mussolini und Hitler schlossen am 23. Juli 1939 das Optionsabkommen. Den Südtirolern wurde die Option eingeräumt: Entweder ins Deutsche Reich auswandern und dort in einem geschlossenen Gebiet siedeln oder unter Verzicht auf ihr Deutschtum in Südtirol bleiben oder in andere italienische Gebiete auszuweichen.
Unter diesem Druck und massiver Propaganda entschieden sich schweren Herzens 85 Prozent der Südtiroler Männer - Frauen waren nicht stimmberechtigt – also etwa 218.000 Menschen, genannt Optanten, für die Auswanderung. Realität wurde die Abwanderung allerdings nur für jene, die ohne viel Besitz und daher relativ unbürokratisch “gehen” konnten. Auf Grund der Kriegsereignisse kam es schon bald zu Verzögerungen bei der Umsetzung der Auswanderung. Schlussendlich verließen rund 75.000 Menschen ihre Heimat. Der Konflikt zwischen “Geher” und “Dableiber” entzweite Dorfgemeinschaften genauso wie Freundschaften und Familien.

Wer waren diese Auswanderer?

Die wenigen auswandernden Bauernfamilien wurden in den besetzten Gebieten in Galizien (im heutigen Südpolen) auf Höfe geschickt, deren Besitzerinnen und Besitzer vertrieben worden waren oder sie erhielten in Österreich (ab 15. Oktober 1939 Ostmark) und Deutschland arisierte Landwirtschaften.
Die meisten Optanten waren Besitzlose, häufig Handwerker oder ehemalige italienische Staatsangestellte wie zum Beispiel Eisenbahner. Männer im wehrfähigen Alter oder Angehörige des italienischen Militärs wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Innsbruck gemustert und an eine der Kriegsfronten im Deutschen Reich geschickt. Die arbeitende Bevölkerung wurde je nach beruflicher Qualifikation und Bedarf verteilt, wobei die Betroffenen aus zwei bis drei Angeboten wählen konnten und zuerst in Gasthäusern und Baracken untergebracht wurden.
Ein Lichtblick im schwierigen Leben der Auswanderer waren die für sie so schnell erbauten Siedlungen an den damaligen Orts- und Stadträndern wie etwa in Nordtirol.
Diejenigen, die tatsächlich ausgewandert sind, konnten klassische Migrationsgeschichten erzählen. Sie wurden selten mit offenen Armen empfangen – auch nicht im Gau Tirol. Im Gegenteil, die Einheimischen beneideten sie um die Zuteilung der Arbeitsplätze und die extra für sie erbauten Wohnungen in den Südtiroler Siedlungen mit den für die damalige Zeit modernen Ausstattungen wie fließendes Wasser, ein Bad und ein eigenes WC. Dieser “Luxus” war nur in wenigen bestehenden Gebäuden vorhanden. Die Optanten wurden als zusätzliche Konkurrenz bei der Beschaffung von Heizmaterial und Lebensmitteln betrachtet und erlebten (wie die meisten ihrer Nachbarn und Mitbürger) viele Enttäuschungen, Entbehrungen und kriegsbedingte Nöte. 

 

Wohin mit den Siedlungen?

Von den vielen in der Propaganda hochgeschaukelten Verheißungen blieb in der Realität der neuen Heimat – oder an den Fronten der deutschen Aggressionskriege – nicht viel übrig. Zum geschlossenen Siedlungsgebiet kam es nie, und so mussten in aller Eile neue Siedlungen für die Südtiroler Optanten gebaut werden. In der Ostmark, dem ehemaligen Österreich, wurden ab Oktober 1939 in 130 Gemeinden insgesamt 13.500 Wohnungen gebaut. In Tirol waren dies über dreitausend Wohnungen in 24 Gemeinden, im Bezirk Kufstein in Brixlegg, Kramsach, Kufstein und Wörgl. In unserer damaligen Marktgemeinde wurden ab dem Jahr 1939 in der Steinbacher-, der Schubert-, der Christian-Thaler- sowie der Vogelweiderstraße 236 Wohnungen errichtet.

Architektonisches Konzept der Siedlungen

Die Südtiroler Siedlungen wurden von der Siedlungsgesellschaft “Neue Heimat” erbaut. Diese hatte ihren Ursprung in gewerkschaftlich organisierten Gesellschaften Deutschlands der 1920er-Jahre, die Kleinwohnungen für Arbeiter errichteten. Österreich war im März 1938 seiner Eigenständigkeit beraubt worden und wurde zur Ostmark. Auch hier wurde die “Neue Heimat” für soziale Bauvorhaben eingesetzt und mit der Errichtung der Siedlungen für die zur Auswanderung überredeten und gedrängten Südtiroler beauftragt.
Die Planung für die Häuser in Wörgl wurde an den Gausiedlungsplaner Helmut Erdle (1906-1991) vergeben. Typisch für seine Bauten ist die schlichte, landschaftsverbundene Bauweise und starke Durchgrünung der Siedlung. Er steht für menschlichen Maßstab, Aufgliederung großer Baumassen in kleinteilige Volumina, die Vielfalt räumlicher Eindrücke und einen starker Naturbezug. Ein weiteres Erdle-Merkmal: alle Häuser sind zur Sonne ausgerichtet. Auf dem Grundstück war nicht viel Platz zur Verfügung und trotz der Enge schuf er ein lichtes Ambiente. (1)

Das Leben in den Siedlungen

Die Häuser in Wörgl beschreibt die in Bozen geborene Paula Zangerl so: “Die Planung war gut und gilt noch heute in Fachkreisen als Vorbild für den Siedlungsbau. Mit massiven Ziegelmauern, breiten Vordächern, viel Holz bei Fenstern und Balkonen versuchte man heimatlich Vertrautes zu vermitteln. Man plante auflockernde Grünflächen, sogar einen Dorfplatz mit Bäumen und Bänken, der dann leider dem klotzigen Konsumbau geopfert wurde. Durch den Krieg erfolgte die gesamte Ausführung, innen und außen, sehr mangelhaft.
Es reichte nicht einmal mehr zu einem Außenanstrich, so wirkten die Siedlungen ungepflegt, düster und grau, mit der Zeit sogar verwahrlost.”

Die ersten Umsiedler zogen in Wörgl bereits 1939 ein, die letzten im Jahr 1944 – unter ihnen auch die damals gerade fünf Jahre alte Helga Linser, geb. Rottonara, die mit Mutter und Schwester das heimatliche La Ila im Gadertal verließ. Sie kann sich noch erinnern, “dass teilweise die Möbel aus Italien nachgeschickt wurden. Angeblich haben sie drinnen alles aufgeladen, aber es hat sehr viel gefehlt. Geblieben sind eine Küchenkredenz und das Schlafzimmer.” In Wörgl werden sie gut aufgenommen; bis zur Fertigstellung der zugeteilten Wohnung in der Vogelweiderstraße hat ihnen die “Gärtnerei Gwiggner” ein kleines Zuhaus als Wohnung überlassen.

 

Die Zeit nach 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten nur etwa 25.000 Südtiroler Optanten wieder in ihre alte Heimat zurück.
Als Rücksiedler erlebten sie in ihrer ursprünglichen Heimat aber keinen freundlichen Empfang. Sie wurden eher kühl und ablehnend empfangen und teilweise in Durchgangslagern untergebracht. Immer wieder wurde ihnen vorgeworfen, die Heimat verraten zu haben. Immer wieder wurden sie als Nazis bezeichnet. Deutlich ließ man sie spüren, dass sie meist der besitzlosen Schicht angehören und dass sie eine unliebsame Konkurrenz um die knappen Arbeitsplätze sind. (2)

Für viele aber sind die Südtiroler Siedlungen die Basis für ein neues Leben in der Fremde geworden. Dabei fanden nicht nur Südtiroler eine Bleibe, auch Ausgebombte aus dem Ruhrgebiet und zuletzt Flüchtlinge, vorwiegend Siebenbürger Sachsen und Donauschwaben aus dem Banat und der Batschka, trafen in Wörgl ein.

Paula Zangerl:  “In den Jahren nach Kriegsende zogen immer mehr Einheimische in die von Bombenangriffen verschonten Siedlungen und die Integrierung der zugezogenen Südtiroler erfolgte laufend, fast unmerklich. Die jüngere Generation hat kaum noch eine Vorstellung von der Tragik des Südtirol-Problems.
1985 begann eine großzügige Sanierung der beiden Siedlungen, nach 45 Jahren bekamen sie ihren Fassadenanstrich, dazu gefällige neue Fenster und neugestaltete Grünanlagen. Hell und freundlich sind die Siedlungen mit ihren Bewohnern heute ein erfreuliches Stück Wörgl”.

Gegenwart und Zukunft

Die “Neue Heimat Tirol” (NHT), eine gemeinnützige Wohnbaugesellschaft, die zu gleichen Teilen dem Land Tirol und der Stadt Innsbruck gehört, begann im Jahr 2018 in enger Zusammenarbeit mit der Stadtgemeinde Wörgl mit der Neugestaltung der Südtiroler Siedlung in der Steinbacher-, der Schubert- und der Christian-Thaler-Straße.
Bis 2030 sollen am Areal der alten Siedlung nach Plänen des renommierten Innsbrucker Architekturbüros Vogl-Fernheim rund 390 moderne und leistbare Wohnungen entstehen, nachdem die Sanierung des Altbestandes wirtschaftlich keinen Sinn macht – so NHT-Geschäftsführer Hannes Gschwentner, der weiters erklärt: “Die neue Südtiroler Siedlung in Wörgl ist ein Vorzeigeprojekt in Sachen Neugestaltung des urbanen Raums mit einem Mix aus qualitätsvollem, aber leistbarem Wohnraum sowie großzügigen Aufenthalts- und Erholungsflächen im Freien”.

(1)    Südtiroler Siedlungen Condominium in mind, Wittfrida Mitterer, Seite 22

(2)    Südtiroler Siedlungen Condominium in mind, Wittfrida Mitterer, Seite 40

Stadtchronist Toni Scharnagl

Kontakt: chronist@stadt.woergl.at


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